Lina E.

Liebe Antifaschist:innen,


Ich hatte anlässlich des Falles Lina E. einige kontroverse Debatten mit engagierten Antifaschist:innen zu grundlegenden Fragen von Gewalt und dem staatlichen Gewaltmonopol. Ich nehme das zum Anlass, um mit etwas abgekühlten Kopf ein paar Standpunkte zu formulieren.

 

Lina E. ist offenbar davon ausgegangen, dass der Kampf gegen Nazis auch den Einsatz von Gewalt rechtfertigen könne. Und es sieht so aus, als sei sie mit dieser Idee nicht alleine.

So machte die soli-antifa-ost jetzt in einem auch in Freiburg verbreiteten “Statement vor Urteilsverkündung” schon in der Einleitung klar: “Wer Distanzeritis erwartet kann weiter scrollen.”, und kurz darauf: “Für uns ist es an dieser Stelle nicht das Anliegen, einzelne Formen antifaschistischer Arbeit zu diskutieren, abzuwägen oder zu (de-)legitimieren, denn für uns ist eindeutig, dass es sich bei den vorgeworfenen Körperverletzungsdelikten um antifaschistischen Selbstschutz handelt, wenn man die gesellschaftliche Lebensrealität in Sachsen und Thüringen nicht leugnet.” 

Auf den Seiten der Autonomen Antifa Freiburg etwa findet sich sehr viel wichtiges und richtiges, wie Recherchearbeit über rechtsextreme Umtriebe, das meine volle Zustimmung hat. Was man dort jedoch vergeblich sucht, ist eine Distanzierung von Gewalt. Stattdessen wird auf “militanten Antifaschismus” positiv Bezug genommen. In einem kurzen Beitrag zum Prozess gegen Lina E. von 2022 wird unter der Überschrift “Ein Kniescheibenbruch ist doch kein Beinbruch” gefordert “Keine Kniescheiben für Nazis, aber Freiheit für Lina!”. 

 

Warum bin ich überhaupt Antifaschist?

 

Weil der Faschismus die Würde des Menschen mit Stiefeln tritt, genau deshalb. Ein Kampf gegen den Faschismus macht für mich nur Sinn als ein Kampf für die Unverletzlichkeit der Menschenwürde von JEDEM. Art. 1 GG. ist nicht umsonst der Angelpunkt des Rechts- und Wertesystems. Ein Antifaschismus aber, der in Selbstjustiz Menschenknochen bricht, verrät genau das, auch dann, wenn es die Knochen eines Nazis sind.

 

“Was aber, wenn der Staat dieses Recht nicht wirksam schützt, weil er selbst von Faschisten oder ihren Sympathisanten unterwandert ist? War Georg Elser etwa nicht im Recht, als er dem Staat das Gewaltmonopol entrissen, und die Sache unter Einsatz einer Bombe selber in die Hand genommen hat?”

 

Vor niemandem könnte ich mich tiefer verneigen als vor Georg Elser, der in den ziemlich sicheren Tod gegangen ist, weil er gesehen hat, dass der deutsche Staat von 1939 die Würde des Menschen nicht mehr schützen konnte, und auch gar nicht schützen wollte, weil er selber eine Terrororganisation war. “Wo Recht zu Unrecht wird, wird Widerstand zur Pflicht.” Aber 2023 ist nicht 1939, der Staat in dem wir leben ist kein faschistischer Staat.

 

“Aber stimmt es etwa nicht, dass dieser Staat auf dem rechten Auge mindestens partiell blind ist? Dass Nazis viel zu milde bestraft werden und sich in weiten Landesteilen blutig breit machen können, während bei Linken ‘Terrororganisationen’ herbeikonstruiert werden, sobald einer irgendwo zwei Paletten anzündet oder sich auf die Straße klebt? Dass mit dem Segen eines Innenministers Seehofer ein Hans Georg Maaßen oberster Verfassungsschützer sein konnte, ein Typ, zwischen den und die AfD kein Blatt passt? Der eine rassistische Hetzjagd in Chemnitz partout als solche nicht erkennen will, aber in der SPD eine extremistische Organisation? Dass es bei der Polizei einen notorischen Hang zu menschenverachtenden Chatgruppen gibt, von denen die Kollegen leider nie auch nur das geringste mitbekommen? Dass die wahrscheinlichen Mörder von Oury Jalloh frei herumlaufen, und zwar in Polizeiuniform? Dass die AfD in weiten Landesteilen stärkste politische Kraft ist, und zwar bevorzugt gerade dort, wo sie ihr faschistisches Gesicht am deutlichsten zeigt? Und dass eine CSU jahrelang nicht genug davon bekommen konnte, dem bekennenden Antisemiten und Antidemokraten Orban den Rocksaum zu küssen? Dieselbe CSU, die heute einem Ron DeSantis ihre Aufwartung macht?”

 

Ja. All das ist leider wahr und es ist eminent wichtig, dass es Leute gibt, die sich gegen all das engagieren, und gerne bin ich dagegen auch auf der Straße.

 

Und TROTZDEM ist dieser Staat deswegen kein Unrechtsstaat der mit Deutschland von 1939 (Elsers Attentat) verglichen werden kann. Nicht auch nur entfernt. Wenn der Zustand der deutschen Demokratie von 2023 rechtfertigen sollte, dass man dem Staat das Gewaltmonopol entreißt, dann kann man das Experiment Demokratischer Rechtsstaat gleich einstampfen. Ich sehe - trotz allem! - nicht viele Demokratien, die besser funktionieren, als die deutsche von 2023, sondern leider viele, die weit mehr auf der Kippe stehen (Polen, Ungarn, Italien, USA, Israel, Türkei - you name it).

 

Demokratie ist noch nie etwas anderes gewesen, als eine fragile und fürchterlich unvollkommene Veranstaltung. Weil die Bevölkerung, die sie trägt, nicht lauter aufgeklärte gescheite Humanisten sind, sondern eine manipulierbare, indoktrinierbare, ideologisierbare und zu jeder Niedertracht fähige Masse, an deren Dummheit man täglich verzweifeln könnte. Was kann man erwarten, dass dabei herauskommt? In günstigsten Fall eine große Kackophonie, wo Widerwärtigkeiten wie die oben genannten ständig präsent sind, die aber dann doch nicht in die wirkliche Barbarei abgleitet, weil die Mehrheit ein paar elementare Spielregeln dann doch akzeptiert. Ich denke, dieses unansehnliche, zerbrechliche Gebilde ist es, das wir schützen müssen, denn etwas besseres haben wir nicht. Der Kampf gegen Rechts kann nur als politischer Kampf innerhalb des Rechtsstaats und seiner Institutionen geführt werden, nicht als militanter Kampf gegen ihn.

 

Die Forderung, dem Staat das Gewaltmonopol zu entreißen und die Probleme auf eigene Faust zu regeln, könnt Ihr Euch nur deshalb überhaupt leisten, weil Ihr genau wisst, dass Ihr damit nicht durchkommt. Wenn Ihr Erfolg damit hättet, diesen Staat zu delegitimieren, dann stünden ganz Andere Gewehr bei Fuß, die auch nichts lieber täten, als “die Probleme selber zu regeln”. Leute, gegen die Ihr ohne den Schutz dieses Staates lieber nicht kämpfen wollt, weil deren Waffenkammern besser bestückt sind als Eure.

 

Und auch wenn die rechten Umtriebe ein schwer zu ertragender, permanenter Skandal sind, solltet Ihr doch kaltblütig genug bleiben, um nicht diejenigen, die fälschlicherweise behaupten, die Gefahr käme von links, durch linke Gewalt ins Recht zu setzen. Und damit auch Mitstreiter aus der gemäßigten "Mitte der Gesellschaft", also Leute wie mich, verstören. Linke Gewalt ist ein Geschenk an die Höckes und Maaßens, in der Währung von Wählerstimmen für die AfD.


Die Linke der 70er Jahre, die sich mit einem deutlich repressiveren Staat herumgeschlagen hat als dem heutigen (Berufsverbote für linke Lehrer, ein NS-Justizmörder als BaWü Ministerpräsident), hat das irgendwann mehrheitlich eingesehen, und den “Gang durch die Instanzen” angetreten, und ich würde sagen, sie haben damit einiges erreicht. Gewonnen haben sie diesen Kampf nicht, sonst gäbe es heute keine Höckes und Maaßens, und er wird auch nie zu gewinnen sein, denn die Idioten sterben nicht aus. Entscheidend ist, dass wir ihn nicht velieren.

 

Wer ihn aber mit dem Hammer gegen Kniescheiben führt, der hat ihn schon verloren.

 

In diesem Sinne,

 

Jochen

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