Mahnwachen am Augustinerplatz um den 9.November wegen Gaza
Liebe Frau Bauer-Scheid
wir haben uns an Ihrem Stand am Freitag abend länger unterhalten. Erst danach habe ich das Flugblatt gelesen, dass Sie mir mitgegeben haben. Dort schreiben Sie:
„Schwierig sich zu positionieren, man muss beide Seiten verstehen…“
Ja. Wir sind emphatisch mit allen Menschen in Palästina und Israel, denen Leid zugefügt wird, und grenzen uns von all denen ab, die anderen Leid zufügen, unabhängig von ihrer Zugehörigkeit.
Aber auf der politischen Eben sind Israel und Palästina nicht zwei gleichberechtige Seiten, die sich in einem Konflikt gegenüberstehen:
Der Staat Israel underdrückt seit 75 Jahren die palästinensiche Bevölkerung in den besetzten Gebieten und begeht derzeit ein völkerrechtswidriges menschenverachtendes Kriegsverbrechen, indem er die Menschen in Gaza in einem Freiluftgefängnis eingesperrt hält und ermordet. Ist es da schwierig, sich auf eine Seite zu stellen?
Kontext
· Wir stehen auf dem Augustinerplatz, der Boden hier ist übersäht mit Stolpersteinen, ich selber wohne ganz in der Nähe in einem Haus, aus dem vor 80 Jahren 5 Jüdinnen und Juden verschleppt wurden. In meiner Wohnung wurde eines Tages zu früher Morgenstunde geklingelt, vor der Tür stand die Gestapo und am Bahnhof ein Zug.
·
Vor noch viel kürzerer Zeit, am 7.
Oktober, wurde in Israel das seit dem Holocaust größte Massaker an Jüd:innen
begangen. Von Leuten, die ihre barbarischen Verbrechen stolz zelebriert und per
Video ins Internet gestellt haben. Dieser Massenmord wurde in vielen Teilen der
Welt, auch auf deutschen Straßen, teilweise frenetisch gefeiert. Über 200
Menschen sind heute noch in der Gewalt der Hamas.
Seit diesem Überfall tobt im Gaza Streifen ein Krieg zwischen Israel und der
Hamas, der unter der palästinensichen Zivilbevölkerung katastrophales Leid
verursacht.
· Seit dem 7ten Oktober geht eine Welle des offenen Antisemitismus über die Welt und auch über Deutschland von einer neuen Qualität und Intensität, die uns bestürzen und alarmieren muss. Der türkische Präsident Erdogan hat erst gestern offen das Existenzrecht des Staates Israel in Frage gestellt.
Vor diesem Hintergrund machen Sie einen Stand, und formulieren ein Flugblatt, in dem die israelischen Opfer vom 7.Oktober mit nicht einer Silbe erwähnt werden. Der Disclaimer in der Einleitung bleibt vollkommen allgemein und nichtssagend, er ist nur eine pflichtschuldige Hinleitung auf ein großes ABER. Anschließend werben Sie nicht etwa für Friedensverhandlungen, vielmehr lehnen Sie es ja schon in der Überschrift explizit ab, überhaupt „beide Seiten verstehen“ zu wollen, und erheben dann als rhetorische Frage die zentrale Forderung: „ist es da schwierig, sich auf eine Seite zu stellen?“
Die Antwort auf das Massaker vom 7. Oktober soll also lauten: wir sollen uns eindeutig „auf eine Seite stellen“ – nämlich die Seite der Täter! Also konkret auf die Seite der fanatischen Judenmörder, die erklärtermaßen alle Israelis ausrotten wollen, und dies offenbar auch tun, sobald sie Gelegenheit dazu haben. Wenn Sie das jedoch nicht meinen sollten, dann müssten Sie klar zwischen der Hamas und den Palästinensern unterscheiden, und sich von der Hamas distanzieren. Das tun Sie jedoch nicht, vielmehr wird in ihrem gesamten Auftritt die Hamas gar nicht erwähnt.
Ich finde diese Täter Opfer Umkehr abenteuerlich – und zwar auch dann, wenn ich die israelische Politik sowohl vor als auch nach dem 7. Oktober für fatal, falsch, schlimm und völkerrechtswidrig halte. Und auch dann, wenn ich die verzweifelte Lage der Palästinenser sehe und anerkenne und davon ausgehe, dass diesen Leuten heute und seit Jahrzehnten Unrecht wiederfährt und dass es dringend an der Zeit ist, das zu ändern.
Sie haben gesagt, und auch im Flyer formuliert, Ihr Anliegen sei kein humanistisches, sondern ein politisches. Aber worauf zielt ein politisches Engagement, dass sich darin erschöpft, die Schuld an allem Unrecht kategorisch und ausschließlich den Israelis zuzuschieben? Was soll dies bewirken, außer Öl ins Feuer zu gießen? Irgendeine konstruktive Forderung, etwa die nach Verhandlungen, oder einer Zweistaatenlösung findet sich nirgendwo, auch auf Nachfrage können oder wollen sie nichts anderes sagen, als die einseitige Anklage gegen Israel.
Ich finde die Geschichte des Nahost-Konfliktes politisch und moralisch ungeheuer komplex, und jeder ernsthafte Versuch, diesen zu befrieden wird nicht ohne das Bemühen aller Beteiligter auskommen, sich mit jeweils anderen Perspektiven auseinanderzusetzen. Aber genau das lehnen sie in ihrem Flyer ab, und beharren stattdessen auf einer großen Vereinfachung: die Israelis sind Täter, die Palästinenser sind Opfer. Palästinensische Täter und israelische Opfer kommen in dieser Welt nicht vor.
Nun waren die großen Vereinfacher selten Teil der Lösung großer Probleme, sondern vielmehr Brandbeschleuniger. Und Sie und ich – als die deutschen Nachfahren der allerschlimmsten großen Vereinfacher mit 6 Millionen Opfern - stehen in der Verantwortung, das Gras wachsen zu hören, wenn Juden wieder Opfer werden und zugleich zu Tätern erklärt. Deshalb dieser Brief.
Ich schreibe diesen Brief explizit an Sie und nur an Sie, die deutsche Ärztin Carola Bauer-Scheid. Zu den jungen Palästinensern, die an unserer Diskussion auch beteiligt waren, könnte ich so nicht sprechen – deren Situation und meine Beziehungskonstellation mit ihnen ist eine gänzlich andere. Ich finde es positiv, dass Sie sich mit diesen und für diese Leute engagieren. Aber wenn wir es gut meinen mit hier lebenden Palästinensern, dann sollten wir sie nicht in ihrer verständlichen Wut auf Israel und der Erzählung von Israel als alleinigem Täter noch bestärken, sondern ihnen vermitteln, dass das Existenzrecht Israels und Solidarität mit Israel – aus Gründen! – hierzulande Staatsraison ist, und dass sie das verstehen und besser akzeptieren sollten.
Und den Palästinensern in Nahost sollten wir versuchen zu klarzumachen (sofern sie es nicht schon wissen), dass Gaza von einem Clan skrupelloser Verbrecher regiert wird, dessen Bosse in Prachtvillen in Katar leben, während Gaza blutet für ihre Taten. Und dass eine menschenwürdige Zukunft für Palästinenser nicht mit Kassam Raketen herbeigebombt werden kann, und nicht mit der Kultivierung von Hass auf Israelis, und nicht unter der Führung einer Hamas. Und dass ein freies Palästina sich nicht „from the river to the sea“ erstrecken wird, sondern Israel als Nachbarn haben wird. Wem wirklich das Leiden der palästinensischen Bevölkerung am Herzen liegt, der müsste zuallererst fordern: „free Palestine from Hamas.“
Im übrigen hoffe ich sehr, dass der Westen auf Israel mäßigenden Einfluss ausübt, und das Sterben in Gaza bald ein Ende hat. Aber ich denke nicht, dass man in dieser Richtung etwas erreichen wird, indem man von Deutschland aus die Verbrechen an Israelis wegleugnet, und Israel als allein-schuldigen kolonialen, imperialen und genozidalen Apartheitstaat an den Pranger stellt.
Der hellste Moment in den letzten Wochen war für mich ein Interview mit dem israelischen Historiker Harari, wo er ganz am Schluss sagt:
„If Germans and Israelis could finally become friends, everything is possible.“
Diese erstaunliche Freundschaft mag dieser Tage für uns eine schwierige sein in Anbetracht des Verhaltens der aktuellen israelischen Regierung. Aber sie von uns aus aufzukündigen ist keine Option.
Mit freundlichen Grüßen,
Jochen Sautter
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